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Gedanken über eine freie Welt

Die Entwicklung in dieser, unseren Welt kann einem schon Sorgen bereiten. So geht es mir jedenfalls: die Ukraine kann sich nicht gegen einen kriegerischen Agressor wehren, und die USA hofieren gleichzeitig unverholen den Angreifer. Eine jahrzehntlange Gewissheit, dass die westlichen Staaten militärische Expansion ächten, geht verloren.

Mächtige Algorithmen, fast ausnahmslos in den USA beheimatet, steuern unsere wirtschaftliche und persönliche Zukunft.

Sogenannte soziale Netzwerke filtern den Inhalt, den wir zu sehen bekommen und lassen uns in Ratlosigkeit und Filterblasen allein, verstärken negative Abgründe in uns und gleichzeitig auch in unseren Gesellschaften.

Politisch extreme Kräfte bekommen Zulauf, den ich vor wenigen Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte.

Wir befinden uns im Jahre 2025 n. Chr. Die ganze Welt scheint von Verrückten und Algorithmen besetzt… Die ganze Welt? Nein! Eine von unbeugsamen Kreativen bevölkerte Insel hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für facebook, tiktok, twitter und threads, die als die Könige von morgen auch in diesem Land endlich ihre Krakenarme fest zugreifen lassen wollen…

Ich habe im Sommer voller Begeisterung davon gelesen, was sich in den letzten zehn Jahren in Taiwan entwickelt hat.

Audrey Tang, diesjährige Gewinnerin des als alternativen Nobelpreis bekannten Right Livelihood Awards, reist durch die Welt, um zu erklären, wie sich Taiwan als digitale Demokratie in diesem Zeitraum neu erfunden hat. Sie war acht Jahre lang Digitalministerin in Taiwan.

Am 2. Dezember wird ihr der Right Livelihood Award verliehen. Wer dabei sein möchte, kann dies bei Youtube verfolgen.

Was hat Taiwan geschafft?

Nachdem 2014 nur 9% der Taiwanesen staatlichen Institutionen vertrauten, waren es 2020 bereits wieder 70%. Der erste Halbsatz kommt mir sehr vertraut vor. Wenn ich auf Deutschland blicke, können es vielleicht etwas mehr als 9 Prozent sein, aber es ist sicherlich kein viel höherer Anteil an der Bevölkerung, der Gerichten, Verwaltung und Regierung im Grunde genommen vertraut.

Soziale Netzwerke schalten in Taiwan so gut wie keine Anzeigen von Bots oder anderen Fakeaccounts, online verbreitete Gerüchte laufen oft ins Leere, weil sich die Aufklärung darüber schneller verbreitet als das Original. Es gibt gut ausgebildete Menschen, die Fake News erkennen und bereits sind, etwas dagegen zu tun. Als ich das las, dachte ich, ich bin in einem Science Fiction oder einer Satiresendung!

Ich habe erst angefangen mich mit dem zu beschäftigen, was Taiwan investiert hat, um dies zu erreichen. Im Wesentlichen scheinen es aber diese drei Dinge zu sein:

  1. Schaffung einer digitalen Plattform zur konsensualen Meinungsbildung und Entscheidungsgrundlage, die Polarisierungen überwindet.
  2. „Prebunking“ als Entlarven von Fake News, und zwar in Echtzeit, so dass sich die meist humorvolle Klarstellung schneller verbreitet als das Gerücht.
  3. Eine Neuausrichtung der schulischen Wissensvermittlung mit den drei Lernzielen: Neugier, Zusammenarbeit und bürgerliches Engagement.

In Taiwan wurde erkannt, dass Netzwerke mit Retweet und Antwortfunktion zur Polarisierung beitragen. Also wurde daran gearbeitet, divergierende Gruppen im Onlineaustausch nicht weiter gegen einander aufzubringen, sondern es wurden Anreize gesetzt, den oder die gemeinsamen Nenner zu finden. Man kann dort also auch widersprechen und zustimmen, entscheidend ist aber der sog. Brückenbonus. Dabei werden die Beiträge gepusht, die beide Seiten ansprechen, die also Differnezen überbrücken. Der Anreiz für virale Verbreitung wurde neu ausgerichtet.

Diese Social-Media-Plattform heißt Polis (πόλις) – der Staat. Die historische, griechische Polis definierte sich nicht über ihr Territorium, sondern über Ihre Mitglieder. Sie war eine Bürgemeinde und beinhaltete Volksversammlungen zur Meinungsbildung. Nicht weniger will Pol.is sein, laut eigener Webseite: ein Echtzeit-System, um zu verstehen, was große Gruppen von Menschen in ihren eigenen Worten denken.

Ähnlich kollaborativ ging und geht man vor, wenn Fake News das Land überfluten. Innerhalb von zwei Stunden soll auf jedes Gerücht im Netz eine schlagfertige und faktenbasierte Antwort verfügbar sein, im besten Fall sogar witzig gemacht! Dafür engagieren sich Taiwanesen in einem gemeinnützigen Netzwerk. Sogar der Premierminister hat schon mitgemacht. Diese Faktenprüfung findet kollektiv statt, und es sind keine staatlichen Stellen, die einen Wissenskanon vorschreiben.

Und schließlich hat die Neuausrichtiung des Bildungssektors dazu geführt, dass die 15-jährigen Taiwanesen heute weltweit führend sind, wenn es um staatsbürgerliches Wissen geht. Sie sind daher abwehrfähig gegen Polarisierung und andere Angriffe.

Was können wir davon lernen?

Laut Audrey Tang ist es ganz einfach: dadurch, dass Taiwan den Angriffen bereits früher ausgesetzt war, hat es sich notgedrungen mit Versuch und Irrtum einen Vorsprung erarbeitet. Wir brauchen die Fehler nicht zu wiederholen, wir können einfach alles so übernehmen.

Ich wünsche mir für 2026, dass wir das tun!


Mehr über Audrey Tang:

Interview in der Süddeutschen (hinter der Bezahlschranke):„Wir sagen ihnen einfach: Das ist der Wille unseres Volkes“

The Guardian über die Social-Media-Plattform Polis:„Wie die neue Social-Media-Plattform Polis Trolle unterbindet, um einen Konsens (und neue Gesetze zu schaffen)“

    Von Johannes Zeyse

    2010 habe ich zusammen mit Ákos Benkö Claritos gegründet, um Klarheit ins Thema Finanzen und Versicherungen für unsere Kunden zu bringen. Mein fachliches Interesse gilt insbesondere dem Thema faire Produkte und nachhaltige Geldanlage. 2015 habe ich mich als Generationberater (IHK) qualifiziert, um meinen Kunden eine adäquate Begleitung in Sachen Ruhestands- und Nachfolgeplanung zu ermöglichen.

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